Gestern war wieder Seminar, die vierte Sitzung im Sommersemester, vierstündig via ZOOM. Zusammen mit Kathrin Schadt vom POEDU hatte ich einen Markt der Möglichkeiten organisiert. Anbieter:innen von Werkstätten und Kursen des kreativ-literarischen Schreibens waren aus der ganzen Republik zugeschaltet, aus Halle an der Saale, Berlin, aus dem Bahnhof von Heidelberg, um mit den Studierenden darüber zu sprechen, was es alles an Formen und Varianten gibt, Impulsgeber:in und Wegbegleiter:in beim kreativ-literarischen Schreiben zu sein. Dabei ist mir noch einmal dringlich klar geworden, dass ich über die Seminargäste des letzten Semesters immer noch etwas schreiben wollte. Vor allen Dingen über Hanns-Josef Ortheil wollte ich noch berichten, der uns am 17. Januar 2024 im Seminar besuchte und am 18. Januar in der Citykirche – vor vollem Haus – aus seinem Roman „Der Stift und das Papier“ las. Also mache ich es gleich, jetzt, heute –sonst ist auch dieser Moment vorbei.
Zuallererst möchte ich noch einmal meinen Dank bekunden. Es
ist keine Selbstverständlichkeit und auch nicht erwartbar, dass sich ein Gast
so aufmerksam und offen-intensiv auf unser Anliegen einlässt, dass
kreativ-literarische Schreiben an Schulen zu stärken. Ernsthaft ist das Wort, das für mich am besten die Haltung beschreibt,
die uns Hanns-Josef Ortheil entgegenbrachte: Ernsthaft interessiert an der
Sache, dem Schreiben, ernsthaft interessiert am Seminar und seinem Thema,
ernsthaft interessiert an den Studierenden, als Menschen – mit Fragen und ihren
eigenen Zugängen – auf dem Weg und ernsthaft-aufmerksam für das Publikum, sein
Publikum in der Citykirche am Abend darauf. Wenn man Hanns-Josef Ortheil als
Autor, Lehrender des kreativen Schreibens und Gründer des Hildesheimer
Studiengangs dazu, und vor allem als Person kennt, die in seinem überwiegend
autobiografisch-autofiktionalen Werk selbst sehr sichtbar ist, ist diese
interessierte Ernsthaftigkeit wohl gar nicht so überraschend. Ich, so muss ich
zugeben, habe ihn erst im Rahmen des Seminars (genauer) kennengelernt und (glaube
ich) verstanden. Dass sein ganzes Leben ein nicht nur be-, sondern vor allem
erschriebenes Leben ist, ein Leben, das erst in und durch das Schreiben als
fortdauernde, beständig begleitende Tätigkeit zu diesem Leben wird. Wobei
Schreiben dann erst einmal ‚nur‘ heißt: notieren, schriftlich-sprachlich
festhalten, was passiert, ohne besonderes literarisches oder publizistisches
Anliegen. Nur getragen vom Wunsch der Dokumentation, des Übersetzens des
Erlebten in Beschreibungen, um so viel bewusster, genauer, intensiver zu
verstehen und zu erleben, was einem da alles, ständig begegnet und passiert…
Wenn eine Person beispielhaft für das nicht zuletzt im Grundschullehrplan NRW
(2021, 11) dokumentierte Anliegen steht, die Kulturtechnik des „Schreibens als
persönlichen Gewinn zu erfahren“, dann Hanns-Josef Ortheil. Entsprechend viel
hatte er uns Anregung und Hinweis mitzugeben.
Dass ich seine Impulse als Hochschullehrer v.a. im
Studiengang für Literarisches Schreiben (und damit verbundene Arbeitsfeldes wie
Kulturjournalismus und Lektorieren) hier nur summierend-knapp wiedergebe, ist
vor allem meinem Wunsch geschuldet, die zweite Perspektive (Hanns-Josef Ortheil
als Kind, das angeleitet durch seine Eltern das Schreiben für sich als Lebenszentrum
entdeckt) besonders hervorzuheben. Deswegen nur kurz: Für mich besonders eindrücklich
war die Schilderung Hanns-Josef Ortheils wie er die Textwerkstätten für
Autor:innen auf dem Weg zur Professionalität (für Studierende seines
Studiengangs also) gestaltet hat. Statt – wie sonst verbreitend üblich – sich
kommentierend-räsonierend über die Textentwürfe der anderen auszubreiten (mehr
oder weniger moderiert und aufgefordert, die Begründungen für eigene Urteile
offenzulegen), hat er eine Struktur und Haltung des Lektorats eingeführt: Die
Aufgabe der Studierenden sei, möglichst konkrete Empfehlungen zur Verbesserung an
den Texten der anderen auszuarbeiten, die der Intention und der persönlichen
Stimme, der gewählte Form oder auch Nicht-Form der Autor:in entsprechen sollten
und nicht den persönlichen Vorlieben und Ideen, was sie hier stattdessen
geschrieben hätten. Für mich überzeugend war, dass diese – letztlich – kleine
Verschiebung der empfohlenen Kommunikationssituation bei Textwerkstätten
genauer und vor allem konstruktiv-produktiver erfasst, was es heißt über der
Besprechung von Texten der eigentlichen Sache zu dienen (und nicht der
persönlichen Gier nach Anerkennung oder konkurrierenden Durchsetzung im Kreis
der zum Studiengang Auserwählten als besonders talentiert): Die Texte und die
Autor:innen müssen durch das Feedback eine Chance, eine Vorlage dafür bekommen,
aus sich heraus – im eigenen Sinn – besser zu werden. Der zweite Impuls, den
ich von Hanns-Josef Ortheil als Hochschullehrer mitnahm, hängt damit eng
zusammen: Das für mich glaubhaft-authentische Bemühen den angehenden
Autor:innen gerecht zu werden, ihnen auf ihrem eigenen Weg und das heißt vor
allem nach innen, zur eigenen Quelle des eigenen Schreibens, beizustehen, sich
klar zu werden, wie nur ‚ich‘ schreibe und schreiben kann, und dadurch eben
auch zu klären, ob das für eine (lebenslange) Berufstätigkeit als Autor:in
reicht, freischaffend, auf sich selbst angewiesen, aber auch
eingebettet-abhängig von einem Betrieb und Markt. Für den Lehrenden, für
Hanns-Josef Ortheil, bedeutet dies (in meiner intuitiven Übersetzung beim
Zuhören) die Bereitschaft und Willen‚ in den Kopf der angehenden Autor:innen
einzudringen, ihre ganze Biografie, ihre ganze Existenz wahr- und ernst zunehmen
und anzufragen. Verbunden – natürlich – mit der Überzeugung, dass auch zu
können: So empathisch-sensibel zu sein, um schon im Bewerbungsgespräch zu
erahnen, wie lebendig-eigen die Bewerber:innen sind, wie kraftvoll die ihnen selbst
noch unbekannte innere Quelle ihrer Schreibens, um so zu einer
Auswahlentscheidung zu kommen, wer für die begrenzten Studienplätze zu
bevorzugen sei. Oder auch fähig pädagogisch taktvoll zu sein, dann, bei der
Begleitung der ausgewählten Studierenden in ihrem Studium: Sie nicht mit den
eigenen Wahrnehmungen und Deutungen zu bedrängen, sondern ihnen interessiert-ernsthaft
(persönlich-humorvoll) beizustehen, auf ihrer selbstbestimmt-eigenen Reise mit
genau den passenden und passend-herausfordernden Impulsen zur rechten Zeit und
genau der passenden Zurückhaltung und einem selbstbestimmt Gewährenlassen in den
meisten anderen Moment. Für mich – als Erziehungswissenschaftler und immer mehr
auch: Pädagogen – war das eine inspirierend-bestärkende
(herzerwärmende) Begegnung mit jemandem, der scheinbar ähnlichen Überzeugungen
folgt. Und entsprechend (ebenfalls? – hier bin ich vielleicht vorsichtiger oder
weniger selbstbewusst) öfters fremdelt und aneckt gegenüber Vorstellungen einer
mehr objektiviert-standardisierten Bewerber:innen-Auswahl oder
Studiengangsgestaltung. Denn was diese – heute verbreitete – Vorstellungen ja
prägt, ist gerade eine nivellierend-skeptische Haltung gegenüber den
persönlichen (subjektiven) Urteilen hervorgehoben-besonderer Expert:innen, die
sich kriteriengeleitet nicht gänzlich nachvollziehen oder gar reproduzieren
(validieren) lassen.
Darüber, wie eine solche – aus meiner Sicht geradezu
klassisch-geisteswissenschaftliche oder sogar reformpädagogisch inspirierte –
Idee für Lehrgänge angehender Autor:innen in die heutige Zeit und die heutige
Praxis von Universität und Studium passen, ließe sich sicher gut und ergiebig
streiten: Ausgang offen.
Bemerkenswert an meiner Begegnung mit Hanns-Josef Ortheil
nicht nur als Hochschullehrer, sondern gerade auch als Autor, der in seinen
Romanen über sein eigenes Leben und Aufwachsen differenziert-sensibel Auskunft
gibt, war aber, dass es zum Verständnis seiner Ideen und Haltungen diesen
erziehungswissenschaftlich-reformpädagogischen Überbau nicht braucht. Es reicht
das Wahrnehmen und – lesende – Nacherleben davon, wie er zu seinem Schreiben
und – zunehmend – zum Bewusstsein seiner eigenen, drängend-unaufhörlichen
Kraftquelle gekommen ist, Schreiben zu wollen, nein, Schreiben zu müssen. In
seinem 2017 erschienenen Roman „Der Stift und das Papier“ erzählt er genau
davon und las aus ihm am 18 Januar in der Citykirche Wuppertal.
Das, dieses Leben, diese eigentümliche Lebenserfahrung, hat
mir Hanns-Josef Ortheil vor allem mitgegeben – als Impuls zum Nach- und
Überdenken, was heißt, kreativ-literarisches Schreiben in Schule fördern zu
wollen. Zuallererst ist dies ein Impuls zu Vor- und Umsicht, zu einer Mäßigung
der Hoffnung. Denn nicht die Schule hat Hanns-Josef Ortheil das Schreiben
beigebracht und ihm das Schreiben zum Lebensinhalt werden lassen. Es waren
seine Eltern, sein Vater zuerst, später auch die Mutter. Keine professionellen
Lehrer:innen, sondern ‚einfach‘ Menschen mit einer
regen-nachfragend-nachspürenden Liebe zu den Dingen um sich herum, mit denen
sie sich eigenständig-eigen, oft dann auch abgrenzend-ablehnend auseinander
setzten. Und wichtig auch: Zwar haben ihn seine Eltern unterrichtet (also sich
Zeit genommen und Dinge bzw. Gesprächsthemen so – z.B. auch zu Aufgaben –
arrangiert, dass eine bestimmte, zu lernende bzw. zu übende Sache im Fokus
stand), aber gerade nicht nach Lehrbuch oder orientiert am üblichen Lehrstoff
und Lehrgang. Ausgangspunkt, so übersetzte ich für mich die Beschreibungen
Ortheils in die mir vertraute Fachsprache, war immer der eigene persönliche
Zugang und das eigene Verständnis des zu lehrenden Phänomens. Für den Vater war
Schreiben so zunächst einmal eine materialgebundene und materialabhängige Tätigkeit
des möglichst exakten Nachzeichnens von vorgegebenen Formen. Basis und erster
Schritt zum Schreiben war damit eine Kenntnis bzw. forschende Zur Kenntnisnahme
der Beschaffenheit von verschiedenen Papieren und Stiften, um die für bestimmte
Zwecke jeweils am besten Geeigneten unterscheiden und wählen zu können. Oder
auch ein erst einmal nur Formen nachzeichnen können. Das lehrte Ortheils Vater dann
im Großformat und nicht in der zeilenförmigen Verkleinerung und mit Hilfslinien
erleichterten Variante des schulischen Schreibhefts, in einer Größe, bei die
Abweichung von der geraden Linie oder Rundung nicht nur offensichtlicher und
schwerer zu vermeiden, sondern dann eben auch umso akribischer zu üben waren.
Dieses Muster, einer an der eigentlichen – lebenspraktisch auffindbaren, aber
auch von innen heraus verstandenen – Sache orientierten Auswahl von Aufgaben,
setzt sich kontinuierlich fort: Vom Sammeln interessanter Wörter, dem
Beschriften von Bildern mit eigenen Gedanken oder den Beginnen eines Journals
mit täglichen Notizen zum Wetter und Vorhaben, dann mehr und mehr angereichert,
vertieft durch Eindrücke oder auch Geschichten. Alles sehr fokussiert und
orientiert am Tun, schrittweise Nachmachen, schrittweise variieren. Und
zunehmend verbunden mit einer gemeinsamen Klärung, Besprechung, ob und auf
welche Weise, das Gefundene, das Notierte bemerkens- und bewahrenswert sei oder
nicht, typisierend eingeordnet oder auch genauer bzw. auf verschiedene Weise (je
nach Kontext und Zweck) beschrieben werden könne. Für mich ist dies lesbar als eine
Schulung der eigenen – sachbezogenen – Urteilsfähigkeit: Wann knistert es in
einem Dialog, wann ist eine Geschichte gut?
Auch wenn Ortheil diese, seines eigene Aufwachsen und Zugang
finden zum Schreiben als etwas einzigartig-außergewöhnliches beschreibt (nicht
wiederholbar geprägt durch die eigene besondere Anschlussfähigkeit an das
Schreiben als Praxis oder die besonderen Persönlichkeiten seiner Eltern als
intuitiv-geniale Pädagog:innen), erkenne ich hier Anschlüsse an didaktische
Entwürfe von Martin Wagenschein oder auch Andreas Gruschka. Ganz ähnlich finde
ich hier, den aufmerksamen Rückbezug auf das eigentliche Phänomen (unabhängig
von der fachwissenschaftliche Aufbereitung und Einordnung) oder auf die
lebensnah-ursprünglichen Problemstellungen, aus denen dann das Schreiben als
Form der Dokumentation, Selbstvergewisserung oder auch Kommunikation über Zeit
und Räume hinweg entstanden ist. Und ebenfalls ganz ähnlich ist der Ansatz des dialogisch-hinterfragenden
Entwickelns eines sachgemäß-vertiefenden Verständnis der forschend untersuchten
Gegenstände aus dem eigenständig prüfenden, begriffssuchenden und- findenden Bemühen
der Schüler:innen, die zum selber Denken und Urteilen aufgefordert sind. Selbst
in den nach der ersten PISA-Krise 2003 initiierten Modellversuchen von Biologie
und Chemie im Kontext bzw. Sinus für das Fach Mathematik lässt sich ein
ähnlicher Ansatz des Neudenkens eines Schulfachs von konkret wahrnehmbaren und
gemeinsam mit den Schüler:innen erschließ- und diskutierbaren Basiskonzepten finden.
Oder auch in den aktuellen Konzepten einer resonanzpädagogischen Fachdidaktik,
bei denen das spannungsreiche „Knistern im Klassenzimmer“ bei der Beschäftigung
mit einem Lehrinhalt gestaltet werden soll. Ortheil steht mit seiner Erfahrung,
seiner Biografie keineswegs allein. Und auch nicht allein mit der Einschätzung,
dass das mit der Schule, wie sie bisher gedacht und organisiert wird, nicht
wirklich passt. Dass sie reformiert, geöffnet, verändert werden muss.
Für unser eigenes Seminar und Projekt des
„Kreativ-literarisches Schreiben an Schulen“ hatte Hanns-Josef Ortheil schließlich,
dafür hatten wir ihn ja eingeladen und direkt im Seminar gefragt, aber auch
konkrete Empfehlungen: Wie auch sein Vater damals, nicht mit Schreibaufträgen
zu beginnen, den üblichen Übungen und Spielen der Textproduktion, sondern erst
einmal mit dem Sammeln von Bildern – echten Bildern, die es verdienen, ausgeschnitten
(oder heutzutage vielleicht: ausgedruckt) und aufgeklebt zu werden in eine –
wertige – Kladde (A3 Querformat) mit weißen Blättern. Und dann diese Bilder
malend und beschriftend zu ergänzen: mit Hervorhebungen oder Einfällen, was
hier persönlich hervorhebenswert sei. Und das, dieses Sammeln, Beschriften
einfach eine Zeitlang zu tun, bis es sich als Routine gefestigt hat. Und erst dann mit Blick auf diese Sammlung
Besonderes auszuwählen … Szenen, Dialoge oder auch Person, die für eine Geschichte,
die mit der Zeit entstehen soll, gutes Material wären. Übersichten und Mindmaps
zu bauen mit verschiedenen Szenen und Personen, um Varianten
gedanklich-zeichnerisch durchzuspielen, bis sich eine Entscheidung – ein
Favorit, eine Geschichte, die erzählt werden möchte, hervortut und aufdrängt.
Und die dann nur noch runtergeschrieben (zusammengefügt) werden muss, weil ja
alles schon da ist, die Bilder der Personen und Orte, ihre Beschreibungen und
die knisterende Dialoge, die Dramen zwischen ihnen.
Vorgeschlagen hat Ortheil uns also eine langsame Stetigkeit:
eine Viertelstunde nur im Unterricht mehrmals die Woche, die sich dieser immer
weiter gefüllten Kladde, dem eigenen Werden einer Geschichte widmet. Also eine
Schreib-Viertelstunde ähnlich wie sie als Lese-Viertelstunde oder
Demokratie-Viertelstunde ebenfalls gerade den Schulen nahegelegt wird (und als
sehr erfolgsversprechende Form des Einübens empirisch getestet ist). Im Ansatz
widerspricht es zwar unserem aktuellen Konzept, die Studierenden in unserem
Seminar eher auf zeitlich begrenzte Aktivität außerhalb oder ergänzend zum
üblichen Unterricht hin zu orientieren. Aber perspektivisch – nicht in diesem
oder im kommenden Semester, sondern vielleicht in einem Jahr hätte ich groß
Lust mit den Studierenden dann, eine solches Halbjahresvorhaben mit Kladde und
schrittweisen Arbeitsaufträgen von vielen Schreib-Viertelstunden zu durchdenken
und zu planen und dann mit interessierten Schulen und Lehrkräften praktisch
auszutesten. Das hätte ich richtig Lust dazu!
Was für anregende Impulse, was für eine mir persönlich
wichtige Begegnung: Danke, Hanns-Josef Ortheil.